Das Studio von Philippe Malouin liegt im Londoner Stadtteil Hackney. Vom szenigen Shoreditch geht es Richtung Norden, bis die künstlerischen Murals zu hastigen Graffitis werden, die Menschen im Jogging im Supermarkt spazieren gehen und Mikrobrauereien Gemüseläden weichen. Manche sagen Hackney wäre das neue Shoreditch, denn das ist mittlerweile zur Kirmes gentrifiziert – manche sagen eben etwas anderes. Philippe Malouin, der in nur zehn Jahren vom gefeierten Nachwuchstalent zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Designer geworden ist, führt hier in einem Künstlerhaus sein Studio. 2018 wurde er vom Magazin Wallpaper zum Designer of the Year ernannt – nur einer von einigen Adelstiteln der Kreativbranche, die dem aus Kanada stammenden Wahllondoner verliehen wurden. Aus dem üblichen Londoner Nieselregen geht es durch einen verwinkelten Flur in Philippes Studio, es riecht nach frisch gesägtem Holz und Farbe. Der langgestreckte Raum beherbergt Werkstatt, Lager und Arbeitsplätze. Noch – denn gleich zur Begrüßung erzählt Philippe von seinem geplanten Umzug nach Shoreditch.
Beginnen wir vorn: Wann hast Du Design für Dich entdeckt und dass das mal ein Beruf sein könnte?
In meiner Kindheit in Montreal hatten wir eine Werkstatt – und ich hatte immer Spaß daran, dort „Dinge zu machen“. Darüber hinaus war ich eher orientierungslos. Nach der Schule habe ich mich für einen gestalterischen Basiskurs eingeschrieben, wo wir in Fotografie, Grafik und Produktdesign unterrichtet wurden. Industriedesign hat mich sofort interessiert. Ich fing dann in Montreal an der Universität an. Hier wurde die Art von Industriedesign unterrichtet, wo man Gas-Reservoirs für Bombardier entwirft oder komplexe Kunststoff-Spritzgussobjekte. Projekte, in denen man sich sehr genaue Gedanken über Material und Produktion macht.
Kurz darauf bist Du nach Europa ausgewandert.
Während ich gelernt habe strukturelle Belastungen zu berechnen und technische Zeichnungen anzufertigen wusste ich: Wenn ich mit besonders guten Noten abschließe, bekomme ich ein Stipendium von der Regierung um einen internationalen Austausch zu machen. Also habe ich ein Jahr Bestnoten geschrieben, bekam mein Ticket, flog weg – und kam nie zurück.
Du hast in Eindhoven studiert – einer Designschule, die viele Designer bekannt gemacht hat, aber mit ihrem Designverständnis auch sehr eigenwillig tickt. Warum dort?
Ich ging erst für ein halbes Jahr nach Frankreich und machte ein Praktikum. Dann fing ich bei Frank Tjepkema in Amsterdam an, der damals für das niederländische Designkollektiv Droog entworfen hat. Droog waren Revoluzzer, sie haben das Design demokratisiert. Ob man ihre eigensinnige Ästhetik nun mochte oder nicht – jedes Objekt der Kollektion war in seiner formalen Direktheit sofort zu verstehen. Sie entwarfen Readymades aus Dingen, die Du im Baumarkt bekommst. Das fand ich wahnsinnig interessant. Deswegen sagte mir Frank Tjepkema: Vergiss Kanada, Du musst nach Eindhoven gehen. Obwohl das Semester schon begonnen hatte, habe ich noch kurzfristig ein Gespräch organisiert – und man bot mir an am nächsten Tag anzufangen. Ich sagte ja. Und hatte nicht einmal ein Apartment.
Was macht Deiner Meinung nach die Lehre in Eindhoven so speziell?
In Eindhoven war der Zugang zum Produktdesign ein völlig anderer als in Montreal. Wirklich alles wurde in Frage gestellt. Warum wir die Dinge so produzieren, wie wir sie produzieren – oder warum wir sie überhaupt produzieren. Aber das Produkt stand immer im Zentrum. Heute ist das in Eindhoven oft anders, da geht es viel ums Erforschen, um Ideen und Experimente. Es finden anarchistische Kreativprozesse statt, bei denen man sich mit einem abseitigen Thema befasst und dann die Erkenntnisse in irgendeine Objektkollektion einfliessen lässt. Was nicht falsch zu verstehen ist: Es liegt mir fern über diese Intellektualisierung des Entwurfsprozesses zu urteilen – es ist nur nicht mein Ding.
Nach Deiner Ausbildung in Eindhoven bist Du nach London gezogen und hast relativ schnell dein eigenes Studio gegründet. Wie hat sich mit dem Erfolg Eure Arbeit in den letzten Jahren verändert?
Es ist nicht so, dass man sein Studium beendet und dann vom unabhängigen Studio ohne Namen sofort zur erfolgreichen Agentur wird. Am Anfang arbeitest du experimentell. Mit der Erfahrung und den großen Kunden verschiebt sich der Lösungsweg, man wird strategischer. Es ist uns aber trotzdem wichtig sich ab und zu Zeit für Kollaborationen zu nehmen oder für Galerien wie Salon 94 in New York zu entwerfen, in der wir eher künstlerische oder skulpturale Arbeiten ausstellen.
Du hast mit Post Office auch ein zweites Studio für Interieurdesign, das Du konsequent abgekoppelt hast vom Designstudio. Warum?
Raumplanung und Produktdesign sind für mich zwei völlig unterschiedliche Dinge. Da sind unterschiedliche Kräfte im Spiel. Physikalische Gesetze stehen einem System gegenüber, in dem sich Menschen bewegen und kommunizieren. Die beiden Professionen sind im gleichen Land zuhause, haben aber einen anderen Hintergrund. Deswegen trenne ich das.
Arbeitet ihr prozesshaft, experimentell, auf Zuruf? Der Press Mirror beispielsweise sieht so aus wie eine formale Entdeckung, die durch ein Experiment entstanden ist.
Genau so war es. Wir haben an etwas anderem gearbeitet und eine Metallröhre gepresst. Und ich hatte das Objekt in der Hand und wusste sofort: Das wird mal ein Spiegel. Aber erst als Umbra Shift auf uns zukam und uns nach Ideen für Accessoires fragte, war das sein Moment. Wir holten wir den Prototypen aus dem Regal und sagten: Ja, hier.
Die Wände des kleinen Studios sind bis unter die Decke mit Lagerregalen angefüllt. Im vorderen Teil des Studios stehen die größeren Objekte wie im Museumsdisplay. Stühle und Tische die in ihren verschiedenen Entwurfsstadien ihre formale Evolution zeigen. Hinter Philippes Schreibtisch steht ein Regal mit den kleineren Objekten, aber auch vielen Studien, die in der Auseinandersetzung mit Material und Prozess entstanden sind. Während Philippe über den Entwurf des Spiegels spricht, holt er den ersten Prototypen hervor.
Auf Euren Regalen sitzt also ein Ding-Archiv, eine Dekade kreativer Investition in die Zukunft?
Da stehen viele angefangene Objekte, aber auch Fragmente und Entdeckungen, für die wir nicht sofort eine Verwendung finden, die aber Potential haben. Manchmal müssen wir uns bei einem neuen Projekt nur aus dem Bestand bedienen. Aber hier zeigt sich auch die unkalkulierbare Seite des Designs: Manchmal geht es ganz schnell, manchmal braucht man eine sehr lange Zeit. Die Vorstellung von dem einsamen italienischen Designer, der im Studio etwas auf ein Blatt skizziert – das ist ein Mythos. Wenn ich mit einem Projekt beginne, dann brauche ich ein Detail oder Kontext. Der kreative Impuls allerdings kann irgendwo und von irgendwo kommen – im Bus oder einer Industriebrache. Dann gibt es eine Transferleistung, das was ich sehe, wende ich auf etwas Neues an.
Dann hast Du also nie frei, weil Du eigentlich immer mit dem Blick des Designers unterwegs bist?
Man braucht gerade die Freizeit, damit einem Ideen kommen. Aber ja, ich denke immer in Produkten oder an Produkte. Ich bin besessen. Aber mir Lösungen für etwas zu überlegen, fühlt sich nicht wie Arbeit an. Es ist einfach das Thema, das mich ständig beschäftigt.
Du hast das erste Jahr in London für Tom Dixon gearbeitet, einen Designer, der es wie kein anderer versteht sich als Marke zu inszenieren. Was ist typisch Malouin?
Manche Leute sagen, dass sie meine Arbeiten sofort erkennen. Aber ich selbst habe nicht genug Abstand, um den roten Faden in meinen Arbeiten zu sehen. Ich mag einfache Dinge mit einer Geometrie, die nicht verwirrend ist. Das rein Dekorative nimmt meiner Meinung nach nur Platz weg. Ich habe meinen Stil, aber ich bin definitiv keine Marke. Ganz im Gegenteil versuche ich mich in jede Marke, für die ich gestalte, hineinzudenken und für sie etwas Neues zu entwickeln. Ich stehe nicht mit meinem Namen vor dem Produkt, sondern immer dahinter.
Man sagt es dauert 10.000 Stunden, bis man etwas gut beherrscht. Gibt es in Deinem Beruf – oder auch im Privaten – irgendetwas, was Du nochmal lernen willst?
Philippe Malouin ist charmant, wählt seine Worte bewusst und spricht mit sanfter Stimme. Aber: Seine Sätze sitzen und er hat eine klare Haltung. Wenn er etwas besonders resolut formuliert, schiebt er manchmal ein „zumindest für mich“ hinterher oder gleicht seine inhaltliche Konsequenz mit einem formalen Scherz aus. Auf die Frage nach den unbedienten Interessen zögert er zum ersten Mal. Natürlich geht es in seiner Antwort ums Design.
Für einen Park in Schweden haben wir vor einiger Zeit die Superbenches gestaltet: Betonhäuschen für einen öffentlichen Park.
Dieses Projekt war unser erster Ausflug in Richtung Architektur. Eine wahnsinnig anspruchsvolle Profession – und ich werde definitiv kein Architekt mehr. Aber dieses Projekt war deshalb so interessant, weil wir an die Architektur wie ein Produkt herangegangen sind. Wir haben Beton und eine Gussform genutzt – der einfachste Weg der Serienproduktion. Um Kosten zu sparen setzt sich unsere Architektur aus sechs identischen Komponenten zusammen. Das ist Produktdesign mit einer verschobenen Größenordnung, die sie zu Architektur macht. Mit dieser Idee möchte ich unbedingt weiter experimentieren.
Hier zeigt er uns einen massiven Hocker, der als Seitenprodukt aus dem Projekt entstanden ist, einen runden Sichtbetonzylinder mit Kieselverkleidung und einer Sitzschale aus Beton. Nach dem Parkhäuschen hatte ihn die New Yorker Galerie um ein kleines Spin Off-Produkt gebeten. Der Hocker erinnert mit seinem Mock Up-Charakter an den Altmeister des Readymade, Achille Castiglioni – und natürlich an Droog. Mit seinem klaren Minimalismus und der Ehrlichkeit gegenüber dem Material ist er aber eben auch typisch Philippe Malouin.
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Der ganze Artikel ist im nomad Magazin #7 erschienen:
www.the-nomad-magazine.com