Gutes Design ist ehrlich. Dieser Leitsatz lässt sich in der Gestaltung universell anwenden. Statt Ungewöhnliches, Auffälliges, Abweichendes zu tarnen, wird es herausgestellt und zum identitätsstiftenden Merkmal. So zeigen sich auch die neuen Prothesen, modisch und hyperfunktional, als in der Gegenwart gelandete Zukunftsvisionen. Und vor allem: bezahlbar.
Die 29-jährige Musikerin Viktoria Modesta arbeitet als Model, trägt weit aufgetürmte Frisuren und erinnert in ihren grafisch geschnittenen Kurzkleidern an Lady Gaga. Dabei ist das herausstechende Attribut der gebürtigen Lettin eines, das gar nicht da ist. Viktoria Modesta fehlt der untere Teil ihres linken Beines. Bei ihrer Geburt war es deutlich kürzer als ihr rechtes, ihre Jugend verbrachte sie größtenteils in Krankenhäusern. Mit 19 Jahren und nach unzähligen Operationen beendete sie die Tortur – und ließ sich den unteren Teil des Beines amputieren: „Als ich aus dem Krankenhaus kam, trug ich meine Prothese, High Heels und einen Designer-Gehstock. Es gab nicht einen Moment der Reue.“ Heute nutzt Modesta ihre wechselnden Prothesen als modisches sowie künstlerisches und damit auch als gesellschaftliches Statement. Mal trägt die Sängerin eine technoide Version aus Stahl, mal eine integrierte Neonröhre, eines ihrer Videos zeigt sie mit einem zu einem Pfennigabsatz zulaufenden Spike. Sie selbst nennt sich Bionic Artist und performt auch mal gemeinsam mit einem 3D-gedruckten Orchester auf der Art Basel.
Passgenau wie ein Handschuh
Viktoria Modestas Kooperationsprojekte mit generativen Fertigungsverfahren kommen nicht von ungefähr. 3D-Drucker sind ein wichtiger Innovationsmotor für Körperersatzteile: seien es Knochenteile oder Prothesen, Gefäße oder Hörgeräte. Ein Scanner vermisst den Körper, die digitalen Modelle werden formschlüssig an den Träger angepasst und mit den benötigten oder gewünschten Funktionen ausgestattet. 2015 gewann das Unternehmen Open Bionics den britischen James Dyson Award, der technologische Innovationen unter dem Motto „Gestalte etwas, das Probleme löst“ auszeichnet. Das Problem der Prothesen ist für die Gründer Samantha Payne und Joel Gibbard vor allem ihr Preis: Eine herkömmliche sensorgesteuerte Hand beginnt bei 50.000 Dollar. Die von Open Bionics kostet nur 3.000 Dollar. Sie funktioniert so gut wie die teuren Modelle und wird mit 3D-Printern innerhalb von 24 Stunden angefertigt. Mit integrierten Sensoren übersetzt die Prothese nach einer Eingewöhnungsphase die Muskelbewegungen des Trägers in Finger- und Handbewegungen.
Chance zur Selbstgestaltung
Open Bionics bietet eine eigene Kollektion an. Zum Beispiel für Kinder. Unterarme von Cyborg-Ikonen wie Marvels Iron Man oder leuchtende Modelle, die an die Schwerter der Jedis aus Star Wars erinnern. Sie werden nicht als medizinische Ersatzteile empfunden und durch ihren offensichtlichen Mehrwert mit Stolz getragen. Außerdem ist das Datenpaket zum Druck Open Source. Jeder könnte sich das CAD-Modell kostenlos herunterladen, eine Hand selbst gestalten und mit dem Sensorkit zusammenschrauben. „Für die Maker Community ist das ein toller Weg, um die Technologie voranzubringen, und das sind auch die Leute, die mit neuen Ideen kommen und uns vielleicht Wege zeigen, an die wir nie gedacht haben“, erklärt Joel Gibbard. Es ist die einmalige Chance, sich einen Teil seines Körpers selbst zu erschaffen. Vielleicht sogar mit Potenzialen, die über denen der Biologie liegen. Wie eine Version des Iron-Man-Armes für Erwachsene, stärker als das biologische Pendant, oder eine mit Werkzeugen ausgestattete Variante. Beinprothesen bekommen mehr Sprungkraft, Kletterer, Radfahrer oder Skiläufer integrieren spezielle Vorrichtungen. Mit ihnen können die sportlichen Leistungen sogar besser ausfallen als die der Konkurrenz. Wenn so aus dem Defizit der Andersartigkeit ein Vorteil wird, bedeutet das auch den Abschied vom Stigma.
Der Grusel des allzu Menschlichen
Die vielen technischen Potenziale sorgen dafür, dass kaum noch jemand versucht, die Natur nachzubilden. Und das ist eine gute Entwicklung: Sozialpsychologische Untersuchungen im Bereich der Robotik haben bereits in den Siebzigerjahren bewiesen, dass Menschen eher von fleischfarbenen Humanoiden aus Plastik irritiert sind als von Maschinenskeletten. Der japanische Forscher Masahiro Mori beschrieb den Effekt als Uncanny Valley („unheimliches Tal“) und meint damit die Akzeptanzlücke gegenüber künstlichen Wesen. Je näher sie dem Menschen in ihrer physischen Erscheinung kommen, umso verstörender wirken sie auf den Zuschauer. Es gilt der gute alte Leitsatz von der Form, die der Funktion folgt. In diesem Fall sieht eine technisch nachgebaute Extremität eben nicht aus wie das biologische Gegenstück.
Der Körper im Kleiderschrank
Mittlerweile werden Prothesen wegen ihres ästhetischen Spielraumes auch für Mode- und Produktgestalter zu einem Thema. Zwei Designstudios machen derzeit mit durchaus unterschiedlichen Ansätzen Furore. Furf Design wurde von Mauricio Noronha und Rodrigo Brenner gegründet, kommt aus dem brasilianischen Curitiba und hat bisher vor allem Möbel und Wohnobjekte gestaltet. Ihr neuestes Produkt, Confetti, ist allerdings „die weltweit erste massenproduzierte, bunte, anpassbare, prothetische Beinverkleidung“. Hinter Confetti steht die demokratische Idee des einen Produktes für alle. Es lässt sich in der Höhe verstellen, passt auf die gängigen Knie- und Beinprothesen und kann individualisiert werden. Löcher im Schild bieten die Möglichkeit zur persönlichen Gestaltung, die farbigen Fronten können ausgetauscht werden. Die Prothese erhält den Charakter einer Strumpfhose, die jeden Tag auf das Outfit abgestimmt wird. Viele der Träger zeigen mit den neuen Prothesen auch einen neuen Umgang. McCauley Wanner, eine der Gründerinnen des kanadischen Unternehmens Alleles, stellt fest: „Durch Science-Fiction und Reportagen über Prothesen in den Massenmedien entwickelt sich eine neue, positive Wahrnehmung. Die Träger beginnen, ihre Prothesen stolz zu zeigen.“
Von der Medizin in die Mode
Wanner hat mit Alleles ein Designunternehmen gegründet, das maßgefertigte Verkleidungen für Prothesen anbietet. Und sich damit ganz klar als Teil der Modeindustrie begreift. Die Kollektion besteht aus bunten Prints mit floralen oder grafischen Cut-outs, zeigt Statement-Pieces mit Totenköpfen und Camouflage. Sie will Prothesen ganz klar aus der Ecke der Medizintechnik befreien. „Wir geben Menschen die Möglichkeit, sich auszudrücken.“ Die Reaktionen belegen, wie deutlich sich die ästhetische Intervention auswirkt. „Von unseren Kunden hören wir, dass sich ihr Alltag verändert. Das oft entgegengebrachte Mitleid schlägt in Bewunderung um. Sie werden gefragt, wo sie ihre Prothese herhaben, bekommen Komplimente“, erzählt Warren. Die Gadgetisierung der Prothetik mit Hyper-Potenzialen und modischem Profit ist Zeitgeist. Denn auch für den Rest der Gesellschaft ist die körperliche Verschmelzung nur noch eine Frage der Zeit. Während wir allerdings unsere Gadgets derzeit noch in Griffweite durch den Alltag tragen, leben die Pioniere der Cyborgs bereits ein neues Selbstverständnis.