Hanoi und Ho-Chi-Minh City sind eng, energiegeladen, wie auf Ritalin. Städte, die so dicht sind wie die Kondensmilch im lokalen Kaffee und mit ihrer Dynamik keine Zeit zum Innehalten lassen. Das urbane Vietnam hat einen eigenen Rhythmus, der die Dinge in Bewegung hält – und das auch in seiner Baukultur zeigt. Junge und ambitionierte Architekturbüros verbünden sich neuerdings mit ihrer kulturellen Identität, mit indigenem Handwerk, westlichen Einflüssen und kolonialem Erbe. In diesem Gemenge entsteht ein neuer Stil, der viel ökologisches Potential und Mut zur Tradition zeigt.
Der Verkehr in Hoh Chi Minh ist ein endloser Strom aus hupenden Mopeds, der wie die Tiden mal fließt, dann kurz erstarrt und sich wieder in Bewegung setzt. Die Vietnamesen sitzen zu zweit im Sattel, machmal zu fünft, Kinder stehen zwischen den Beinen des Fahrers auf dem Trittbrett. Der Gepäckträger wird über die realistischen Potentiale hinaus beladen, Haushaltswaren, Getränkekisten oder lebende Schweine stapeln sich zu einem schwankenden Jenga-Turm. Für alle gilt: Wer jetzt stehen bleibt, der hat verloren. Das betrifft den Straßenverkehr, diejenigen, die den Fahrweg überqueren – aber auch die Wirtschaft. Vietnam ist auf der Überholspur. Wer von den goldenen Zeiten profitieren will, hat keine Zeit zu zögern. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Bevölkerung in Ho-Chi-Minh, der Stadt, die früher einmal Saigon hieß und heute prosaisch auf HCMC abgekürzt wird, auf sechs Millionen verdoppelt. Die Prosperitätskurve der Wirtschaft findet ihre gebaute Referenz in den Skylines der Metropolen. Jeden Tag scheint ein Hochhaus hinzuzukommen. Jede Lücke wird geschlossen und vor allem im Stadtzentrum wird in die Höhe verdichtet. Die an den Tag gelegte Schnelligkeit hat ihre Konsequenzen. Ohne großes Luftholen sind Stadtbilder ausradiert und neu gezeichnet worden. Noch bis zum Ende des Vietnamkrieges 1975 stagnierte jede architektonische Entwicklung. Die Gelder flossen in den Konflikt, die Ambitionen in eine „gute“ Architektur zu investieren waren gering. Auch in den darauf folgenden, prekären Nachkriegsjahren passierte wenig, bis die Đổi mới-Reform (Erneuerungs-Reform) 1986 die Wirtschaft liberalisierte und für Aufschwung sorgte. Die Städter begannen zu bauen – im Zentrum vornehmlich nach oben und mit einer Ästhetik, die mal postkolonial beeinflusst war, mal dem globalen modernistischen Stil, mal frei dem persönlichen und manches Mal einem ins disneyhafte abgleitenden Geschmack entsprach. Was alle Gebäude heute eint ist ihre eigenwillige Typologie. Die Wohnhäuser sind so schmal und hoch, dass sie beinahe anorektisch wirken.
Der Grund für die langen Gebäuderiegel ist ein altes Steuergesetz. Lange Zeit wurden die Abgaben nach der Breite der Front erhoben, die ersten, ein- bis zweigeschossigen Häuser maßen deshalb selten über vier Meter, manchmal waren es nur zwei oder drei. Zusätzlicher Wohnraum wurde nach hinten erschlossen, in langen, teilweise bis zu 100 Meter langen Schläuchen, die von Höfen unterbrochen wurden. Der Wechsel von Baukörper und Lücke sorgte für selbstregulierende Belüftung und natürliche Belichtung. Diese traditionellen „Tube Houses“ verfügten über ein Mikroklima, das gerade in den heißen Perioden einem Hitzestau vorbeugte. Die meisten dieser traditionellen und oft über hundert Jahre alten Stadthäuser wurden mit der Urbanisierung und Modernisierung abgerissen. An ihrer Stelle und auf ihrer Grundfläche wurde eine zweite Generation von Gebäuden errichtet, die „New Tube Houses“, die sich bis zu sieben Geschosse in die Höhe schieben. Mit ihrem oft eklektischen, uninspirierten und nichts referenzierenden Baustil stellen sie ein Fassaden-Patchwork in den urbanen Raum; sie zeigen sich als Wohnhäuser, die ihre ursprünglichen Qualitäten verloren haben.
Die vernakuläre Bauweise der ländlichen Gebiete hat einst beim direkten Import in den Stadtraum zu Konstruktionen geführt, die durch lokale Materialien und leichte, durchlässige Wand- und Dachstrukturen für eine maximale Durchlüftung sorgten. Schattige Außenzonen wie Veranda, Terrasse oder Loggia schützen traditionelle ländliche Häuser durch große Überhänge oder gezielt installierte Vegetation vor der Sonne. Diese Übergangsbereiche vermitteln zwischen der Natur und dem Innern und sind tagsüber der wichtigste Aufenthaltsraum. Gärten und Teiche reduzieren die Temperatur in direkter Nähe zum Gebäude. Vor dem Eingangsbereich stehen schlanke Palmen und Sträucher, die Luft ins Haus tragen, an der Rückseite wachsen üppige, vor der Hitze isolierende Büsche. Pergolen, begrünte Gitter und hängende Tontöpfe führen den Garten bis in den Innenraum fort. Die bepflanzten Höfe und zweiseitig offenen Gebäudeblöcke der ersten Tube Houses übernahmen viele Eigenschaften der ruralen Typologie.
Nur: Diese traditionelle Bauweise trifft sich nicht mit den Vorstellungen von einer modernen Lebensweise. Man schielt auf den Westen, aber nicht auf die lokale Klimatabelle. Die Stadtbewohner haben sich bewusst von dem abgewendet, was mit Landleben und Armut in Verbindung gebracht wird. In der Folge besteht die urbane Architektur wesentlich aus von hermetisch vor Klima und Sonneneinstrahlung verschlossenen Gebäudeblöcken, deren einzige Öffnung zur Außenwelt die Abluftklappe der Klimaanlage ist. Eine Architektur, die weder auf Witterung, Kontext noch Kultur eingeht, die sich in dunklen Gängen verirrt und in der sich beengte, spärlich durch Oberlichter erhellte Treppenschächte in die oberen Etagen schrauben.
Aber es zeichnen sich die ersten Reaktionen und Veränderungen ab. In das ungezähmte Stadthaus-Konglomerat von Hanoi und HCMC haben sich in den letzten Jahren vermehrt zeitgenössische Entwürfe junger Architekten eingeschlichen. Sie gehören zu einer Generation, die sich bewusst mit den Folgen der schnellen und unnachhaltigen No Style-Bauweise der letzten beiden Jahrzehnte auseinandersetzt. Mit dem Abstand eines im wirtschaftlichen Aufschwung erwachsen gewordenen Jahrgangs blicken sie entspannt auf ihr Erbe und verstehen das Traditionelle als Inventar mit Potentialen fürs Zeitgenössische. Studios wie a21, Block Architects oder Tropical Space setzen sich vehement für eine Implementierung traditioneller Baumerkmale in die moderne Architektur ein, öffnen das Gebäude mit Innenhöfen und Luftschlitzen, bringen Vegetation ein und installieren verschattende Schirme. Grüne Architektur erlangt in luftverschmutzen Städten wie HCMC und Hanoi neue strategische Relevanz, die tropische Lage spiegelt sich in der Verschmelzung von Agrikultur und Architektur zur Agritektur. Und der Nachwuchs versteht Mangel als Potential: Weil komplexe Architektur oft nicht möglich ist, weil es an Handwerkern, Material und Expertise fehlt, arbeiten sie mit den Potentialen des Verfügbaren. Das Ergebnis ist Minimalismus aus Licht, Raum, Material, Natur und nationalem Vokabular, das die Projekte verortet und die Vision einer neuen zeitgenössischen vietnamesischen Architektur reflektiert.
PROJEKTE
Projekt: Saigon House
Architekten: a21 studio
Link: http://www.a21studio.com.vn
Ort: Ho Chi Minh City
Zwei Projektziele trug die Auftraggeberin an die Architekten von a21 heran: Das Familienhaus sollte sich an der traditionellen Bauweise alter Stadthäuser orientierten und sich als sozialer Treffpunkt eignen. Bei sieben Kindern sowie Tanten, Onkeln, Cousins und Großeltern, die das Haus frequentieren, eine Planungsaufgabe mit gewissem Anspruch. Die klassische räumliche Organisation sieht den Gemeinschaftsbereich im Erdgeschoss und die privateren Bereiche in den oberen Etagen vor und daran angeschlossene Höfe mit Gärten. Das Saigon House öffnet seinen gesamten Innenbereich zugunsten einer Hofsituation, über der die Räume als einzelne, schwebende Raumkuben installiert sind. Die verschachtelte Konstruktion ist über Treppen und Leitern von Raum zu Raum zugänglich. Über der zentralen Kommunikationszone ist ein großes Netz aufgespannt, das den Kindern eine Spielwiese bietet und dabei den Blick auf den Himmel freilässt. „Im Hof erlebt man mit dem sich verändernden Licht den Wechsel der Tageszeiten, der Jahreszeiten und des Wetters. Ein rarer Luxus in der heutigen Gesellschaft“ sagen die Architekten. Die verbauten Materialien sind asketisch einfach: Holzbalken, unverputzte Ziegel, profilierte Stahlstangen und Recyceltes, das die Architekten aus traditionellen Tube Houses zusammengetragen haben. „Nicht nur, weil uns die markante Schönheit des Historischen interessiert, sondern weil wir eine Verbindung spüren, weil durch diese eigentlich aufgegebenen Dinge ein Stück altes Saigon wieder zum Leben erweckt wird.“
Projekt: Q10 House
Architekten: Studio8
Link: http://www.studio8.com.vn
Ort: Ho Chi Minh City
Innovation bei wenig Budget – das sind Projektanforderungen, die Architekten schon im Briefing Freude bringen. In diesem Fall eines Mehrgenerationenhauses kommt dazu ein für Ho Chi Minh ungewöhnliches Reihenhaus-Layout von fünf Metern Breite bei neun Metern Tiefe. Der eigentlich gewünschte, offene Innenhof ließ sich nicht realisieren und für eine natürliche Belüftung mussten die Architekten von Studio8 nach alternativen Möglichkeiten suchen. Sie entwarfen einen ein Meter breiten Schacht, der sich vertikal durch das Haus zieht und durch seine offene Fassade als „Lüftungskanal“ fungiert. Die Bewohner können das Haus an diese natürliche Klimaanlage anbinden – oder bei besonders hohen Außentemperaturen die elektrische Alternative in geschlossenen Zimmern nutzen. Eine weitere ökologische Strategie ist die hinterlüftete Vorhangfassade, die vor direkter Sonneneinstrahlung schützt und kühlere Luft in die Räume bringt. Mit ihrer Pixelästhetik, die sich aus einem regelmäßigen Raster mit frei verteilten, größeren Ausschnitten ergibt, schützt sie das Haus vor Einblicken, während den Bewohnern der Ausblick auf die Straße erhalten bleibt. Nachts leuchtet die Fassade durch das Licht der Innenräume auf – was besonders bei den Nachbarn positiv aufgenommen wurde, wie die Bewohner den Architekten berichteten. „Das Haus wirkt wie eine gigantische Laterne, die die dunkle Straße so erhellt, wie es kein anderes Haus könnte.“
Projekt: Wasp House
Architekten: Tropical Space
http://khonggiannhietdoi.com/
Ort: Ho Chi Minh City
Ein Haus für zwei Geschwister auf drei Etagen – darauf sollte das Architektenduo vom Studio Tropical Space antworten. Wer die beiden beauftragt, hat die Stoßrichtung schon mitgebucht. Denn ihr Name ist mehr als eine geografische Verortung. „Wie in anderen weniger entwickelten Ländern ist der Urbanisierungsprozess in Vietnam rapide. Die Städte sind überbevölkert und verstopft – wir wollen unser Klima, das natürliche Licht zum Vorteil unserer Projekte nutzen. Wir sind überzeugt, dass das der richtige Ansatz ist, um die Situation hier zu verbessern.“ Das Wohnhaus des Geschwisterpaares verfügt deshalb über ein Glasdach, das ebenso wie die löchrige Backsteinfassade viel natürliches Licht einlässt. Im Erdgeschoss gibt es einen Gemeinschaftsraum, der Eingang, Wohnzimmer und Küche zu einer Funktionseinheit vereint. Die beiden darüber liegenden Etagen wurden zu zwei Schlafzimmern, die über ein Treppenhaus erschlossen werden. Um trotz des beschränkten Platzes halbprivate Rückzugs- und Entspannungsbereiche anzubieten, erfüllt das Treppenhaus eine Doppelrolle als Durchgang und Sitzbereich. Vor dem verglasten Eingang sind ein Tor und ein Zaun aus Drahtgitter installiert, die später mit Kletterpflanzen bewachsen den Straßenstaub aus der ins Haus strömenden Luft filtern.
Projekt: Vegan House
Architekten: Block Architects
Link: http://www.blockarchitects.com.vn
Ort: HCMC
Wo heute bunte Holzfenster die Baulücke schließen, stand zuvor ein Apartmenthaus aus dem Jahre 1965, das der Bauherr günstig erwarb und lange Zeit in einen Kulturort verwandeln wollte. Erst seine zweite Leidenschaft – das Sammeln alter Möbel und Baustoffe, führte in Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Block Architects zur Realisierung. Wenn die traditionellen vietnamesischen Tube Houses abgerissen werden, verschwinden mit ihnen auch viele handwerklich wertvolle Elemente, für die sich kaum noch jemand interessiert. Die alten Holzfenster aus der französischen Kolonialzeit, die jetzt die Fassade des Hauses bilden, finden sich auch im Hausinneren als Raumtrenner und Türen. Auch der humorige Twist, einen modernen Flachbildfernseher auf ein an die Wand gelehntes Element zu schrauben, gehört zum Stil des Hauses. Mit ihren schräg gestellten Lamellen verschatten und durchlüften die Fassadenmodule das Haus und gehen als flächiges Patchwork in das Dach über. Einige Lücken lassen Sonne einfallen, versorgen den in Töpfen installierten Dachgarten mit Licht und geben den Pflanzen Gelegenheit über das Haus hinaus zu wachsen. Einen konsequenten Lichtschacht bildet das Atrium im Kern des Hauses, das durch ein gläsernes Dachfenster illuminiert wird. Die Möbel stammen ebenfalls aus der Sammlung des Bauherrn und sorgen als Zeitgenossen der Vintage-Fenster für eine konsequente ästhetische Ausrichtung.
Projekt: SMA 254
Architekten: SMA Studio
Link: http://www.sma-studio.com
Ort: Hanoi
Genau einen Meter ist die Gasse schmal, die zum Studio der Architekten von SMA führt. Von der beengten Atmosphäre ist drinnen allerdings nichts mehr zu spüren, obwohl die Grundfläche des Büros gerade einmal zehn Quadratmeter beträgt. Die Kunden werden im Erdgeschoss empfangen – denn die Erschließung der oberen Etagen ist eher auf der gewagten Seite. Lotrechte Leitern verbinden die Geschoss-Kuben, der Einstieg erfolgt durch schmale Luken. Die allein würden allerdings nicht ausreichen, um das Licht vom Dachfenster bis in die untere Etage zu leiten – vor allem vor dem Hintergrund, dass durch die Straßensituation auch frontal im Erdgeschoss wenig Licht ankommt. In jeder Etage wurde deshalb eine Aussparung in den Boden integriert, die mal durch Glasböden, mal durch Gitter abgedeckt wird. Letztere unterstützen zusammen mit zueinander versetzten Etagen die Luftzirkulation. „Wir haben so gestaltet, dass wir weder Airconditioning noch elektrisches Licht brauchen – so sparen wir jede Menge Energie“ erläutern die Architekten. Wird es dennoch mal zu warm, lässt sich die Fassade zu 70 Prozent öffnen und die oberen Etagen wirken bei gutem Wetter fast wie Outdoor-Bereiche. Um den Dachgarten grün und dennoch nutzbar zur gestalten, hat SMA Studio die Pflanzkästen über Kopf installiert – und schafft darunter schattige Aufenthaltsorte, an denen tagsüber auch mal gearbeitet werden kann. Die Leitern sehen übrigens alle Studio-Mitglieder sportlich. „Wir sind junge Architekten – wir nutzen die Leitern nicht nur um Platz zu sparen – sondern auch um uns körperlich fit zu halten.“
Projekt: Thong House
Architekten: Nishizawa Architects
Link: http://www.nishizawaarchitects.com
Ort: Ho Chi Minh
Oft wünschen sich die Bauherren in Vietnam von den Architekten einen zentralen Innenhof, die gestalt erische Orientierung an der Gestaltung traditioneller Tube Houses und eine Öffnung des Daches. Beim Thong House, einem Wohnhaus im südlichen Teil von Ho Ch Minh, waren die Anforderungen umgekehrt. Die Architekten vom Büro Nishizawa waren dazu aufgefordert einen alternativen Zugang zu finden und dennoch mit Tageslicht, Natur und Raum zu gestalten. „Das Briefing lautete, sich von der räumlichen Organisation gewöhnlicher Stadthäuser zu entfernen. Die zentralen Treppen und Flure dieser Bauten sind zu vier Seiten abgeschlossen und isolieren den Bewohner in diesem Raum“ erläutern die Architekten. Ein Vorteil des Thong Hauses ist seine Randlage – so dass auch seitlich große Fenster integriert sind. Der Wohnraum liegt in der ersten Etage und ist sakrale fünf Meter hoch, ebenso wie das Souterrain, das sich zu einem kleinen Palmengarten an der Haus-Rückseite öffnet. Die Fenster nehmen dabei die gesamte Fassadenfläche der Etagen ein und sind rotierend montiert. So kann zwischen beiden Seiten ein horizontaler Luftstrom entstehen, der das Haus durchlüftet. Die obere Etage mit den Schlafräumen ist niedriger ausgeführt und vermittelt mehr Privatheit. Hölzerne Paneele mit dekorativen botanischen Ausschnitten sorgen je nach Tageszeit und Lichteinfall für ein temporäres Muster auf Wänden und Böden, das die Architekten liebevoll „Lichtteppich“ nennen.
Erschienen als Baunetzwoche unter: http://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-BAUNETZWOCHE_482_4995726.html