Gewebte Geschichten: Teppiche von Jutta Werner

Jutta Werner glaubt daran, dass Marken ohne Menschen nicht funktionieren und dass Authentizität und Ehrlichkeit wichtig sind, um sie erfolgreich zu machen. Mit Nomad hat die Hamburgerin 2020 ihr eigenes Teppichlabel gelauncht und innerhalb kürzester Zeit Furore gemacht. Ihre knisternden, glitzernden und wollweichen Candy Wrapper Rugs sind für den Wohnraum das, was ein hochwertiges Basic für den Kleiderschrank ist: Sie passen zu allem und begleiten durchs Leben. Und sie kommen mit Geschichten. Denn Jutta Werner ist den Ideen und Upcycling-Materialien für ihre Entwürfe im Himalaya begegnet und lässt sie sozial verantwortlich in Indien produzieren. Das Projekt Nomad ist zum Botschafter geworden, Dinge anders zu denken: Mit Enthusiasmus, Instinkt, Hingabe und Transparenz.

Vor Nomad warst Du Architektin, hast als Interieurdesignerin und Kuratorin gearbeitet und hattest große Firmen als Auftraggeber. Warum hast Du Dich entschlossen nochmal neu zu starten?

Ich habe eigentlich Architektur studiert. Mein erster Job war aber ein textiler Innenarchitekturjob bei einem Familienunternehmen, das mich sehr gefördert hat. Dort hatte ich viel mit Stoff und Polstermöbeln zu tun. 2004 war ich an einem Punkt, wo ich das Metier beherrscht habe, aber immer mehr gespürt habe: Ich würde gern für eine Marke arbeiten, die mehr mit mir und meiner Designhaltung zu tun hat. Ich habe zum Outdoor-Designmöbelproduzenten Dedon gewechselt, wo ich sehr flexibel wie ein Nomade gearbeitet habe – weswegen ich mein Studio dann auch Nomad genannt habe.

Damit hattest Du einen Namen für Dein Büro, Dein erster eigener Teppich entstand aber viel später. Woher kam der Impuls ?

Ich war für einige meiner Auftraggeber immer wieder in Indien, auch für Fotoproduktionen. 2016 hatte ich die Möglichkeit, mit einem Fotografen, der in Delhi lebt, privat durch den Himalaya zu reisen. Es war wahnsinnig. Unser Bild von Indien ist oft das eines lauten, bunten, verrückten Landes. In ländlichen Regionen ist es aber oft ganz anders. Ganz puristisch. Und auch reizarm. Die Menschen leben in schlichten braunen Lehmhütten, dann stehen da ein paar Ziegen in den Bergen. Das Einzige, was wirklich bunt ist, sind die Saris der Frauen. Ich begegnete ungefilterter Natur, kam immer wieder in gefährliche Situationen. Und ich musste auf den Fotografen hören, weil der von uns beiden der Ortskundige war. Als ich danach sein Material gesehen habe, dachte ich: Das ist einfach eine fantastische Geschichte.

In einem kleinen indischen Dorf sieht Jutta Werner auf einer Reise glitzernde und knisternde Kordeln. Ein Alltagsprodukt, das die Menschen wie Paketschnur benutzen um Heuballen zu bündeln oder Dinge aufzuhängen. Die silbernen Schnüre wirkten in der kargen Szenerie wie ein magischer Fremdkörper – Jutta Werner ist fasziniert. Sie findet heraus, dass die aufgedrehten und silberbunt beschichteten Kunststofffolien ein weiterverwerteter Reststoff sind: Bei der industriellen Herstellung von Bonbontüten ist das der fortlaufende Abschnitt, der beim Befüllen und Verschweißen übrigbleibt. Als zugkräftige Kordel findet er in den einfachen Verhältnissen des indischen Bergdorfes noch eine funktionale Verwendung.

Als Du die Schnüre aus Bonbonpapier entdeckt hast – war da bei Dir sofort der Transfer da, dass daraus ein Teppich werden muss?

Ja. Als ich die glitzernden Knäuel gesehen habe, führte das ganz viele Gedankenstränge zusammen. Es war klar, dass die Schnüre mit einer ganz ruhigen Schurwolle kombiniert werden müssen, in einer einfachen Webung ohne Muster. So dass das Bonbonpapier im Kontrast die Farbe und sein Lichtspiel einbringt. Der Teppich als Entwurf war mir von Anfang an klar, es gab keinen Weg rechts oder links davon.

Was macht für dich die besondere Qualität dieses Materials aus?

Es ist eigentlich ein Material, das andere nicht mehr haben wollen. Es wird nicht als wertvoll erachtet. Die Schnüre sind in Indien nur ein Arbeitsmaterial, mit dem irgendwas gepackt wird. Wenn man aber die Schönheit entdeckt und die Verwendung ändert, dann wird aus dem recycelten Alltagsprodukt etwas ganz Besonderes. Der erste Schritt ist also, dass man diese schlummernde Energie wahrnimmt. Der zweite ist der ästhetische Transfer. Was kann das Material leisten und wo sind vielleicht auch seine Grenzen? Wie muss es aussehen, um aus dem indischen Dorf heraus eine Relevanz auf unserem Designmarkt zu haben? Zusammen macht das den Zauber aus.

Jetzt hast Du das Material in der Hand, kennst das finale Produkt, aber musst es produzieren. Wie ging es weiter?

Ich hab mir ein paar der glitzernden Knäuel gekauft, die ins Auto gelegt und bin in eine Weberei bei Varanasi gefahren, die ich aus früheren Projekten kannte. Die haben mir dann ein Sample gemacht, gerade so groß, wie es mit den paar Metern eben ging. Den ersten Prototypen habe ich 2018 auf der Teppichmesse Domotex gezeigt. Da haben mich dann gleich drei große Firmen angesprochen, die den Entwurf für ihre Kollektionen kaufen wollten. Was ich aber ganz schnell gespürt habe: Ich wollte das nicht loslassen, der Teppich war wie ein Teil von mir.

Wieviel Courage oder Überwindung hat der Schritt in die Selbstständigkeit gekostet?

Mein Vorteil war meine empirische Expertise. Zwanzig Jahre lang habe ich für andere Marken die Interieurszene und ihre Trends auf alle wichtigen Messen verfolgt und ein Wissenskapital angelegt. Ich konnte also abgleichen: Wo steht der Markt, was könnte funktionieren? Wenn man aus dieser Position heraus eine Idee hat, ist das eine ganz anderer Startpunkt, als wenn du beruflich am Anfang stehst und noch nicht in der Lage bist, Dich im Kontext zu verorten.

Ihr Auftritt auf der Messe hat Jutta Werner gezeigt, dass ihre Intuition sie nicht getäuscht hat. Die Teppiche sind ein Produkt, das zu den Menschen spricht. Aber sie weiß auch um das finanzielle Risiko einer Gründung – und hat bisher noch keine Weberei gefunden, die ausreichend Produktionspotential für eine Serie hätte. Ein indischer Weber, der sie auf der Messe angesprochen hat, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf – er hat ihr das nachdrückliche Gefühl gegeben, sie und ihre Produkte verstanden zu haben. Sie fliegt zu ihm. Wohnt drei Wochen in seinem Haus – und weiß danach: Die Chemie stimmt. Das ist die richtige Kooperation. Dann kommt die Pandemie.

Als 2020 der Lockdown kam, war das für ein Moment der Reflexion. Ich bin immer viel gereist – und plötzlich wurde ich gestoppt. Ich war gerade 50 geworden, meine vier Kinder waren aus dem Haus. Ich hatte Zeit, mir grundlegende Fragen zu stellen, über mein Leben, aber auch darüber, was wir als Gesellschaft brauchen. Bei mir war so viel Wissen und Passion. Ich fragte mich: Bin ich mutig genug, eine Marke aufzubauen? Ich schaute mir die Herausforderungen und das Ziel mit einem offenen Visier an, wusste, dass das viel Geld verschlingen wird und wahnsinnig viel Arbeit ist. Aber auch, dass ich das Projekt von Herzen umsetzen will und jetzt der richtige Zeitpunkt ist – und so wurde aus Nomad ein Upcycling-Teppichlabel.

Zu dem ja nicht nur der Candy Wrapper Rug gehört, sondern auch ein Teppich aus Schaffellresten und einer aus alten Fahrradschläuchen. Wie bist Du die Weiterentwicklung der Kollektion angegangen?

Die beiden weiteren Teppiche sind in der Weberei in Indien entstanden. Auf dem Gelände habe ich eines Tages einen riesigen schwarzen Berg entdeckt – und als ich näher kam, stellte ich fest, dass er komplett aus alten Fahrradschläuchen bestand. Die Weber haben mir erzählt, dass immer wieder Designer bei ihnen waren, die daraus ein sinnvolles Produkt entwickeln wollten. Aber gescheitert sind, weil so ein wabbeliger und unförmiger Schlauch zu wabbeligen und unförmigen Produkten führt. Während nebenan Candy Rugs entstanden, begann ich mich parallel mit dem Gummi zu beschäftigen.

Jutta Werner experimentiert mit den widerspenstigen Schläuchen. Am Ende entwickelt sie eine Idee: Indem sie Gummistreifen in mehreren Lagen zu flachen Bändern verklebt, entsteht ein robustes und witterungsbeständiges Material. Zwischen die Schussfäden eingelegt sorgen die Gummis für eine stabile Struktur – und in der Kombination mit widerstandsfähigen PP-Garnen kann der so gewebte Teppich sogar Outdoor ausgelegt werden. 2021 erhält der „Rubber Rug“ den „Green Product Award“, der nachhaltige und innovative Produkte und Unternehmen auszeichnet.

Wie wichtig ist Dir Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit ist eine Revolution, die ich aktuell durchaus auch als etwas hysterisch empfinde. Das Wort ist überall und das hat zu einer Art Übersättigung geführt. Ich bin aber überzeugt, dass Nachhaltigkeit irgendwann eine selbstverständliche Normalität werden wird.

Gerade die großen Firmen, allen voran die Modeunternehmen, schreiben sich gern die soziale Verantwortung und grüne Produktionsweisen in die Etiketten. Wie siehst Du das?

Aus meiner Arbeit für große Unternehmen weiß ich: Wenn Du eine Prozesskette hast und Teilbereiche auslagerst, dann sind das komplexe Strukturen, deren Aufbau viel Zeit und Geld gekostet hat. Bei großen Unternehmen ist die Umstellung der Lieferkette einer Produktlinie unter Umständen ein unvorstellbarer Aufwand. Das lässt sich nicht immer schnell drehen. Was sich hingegen schnell drehen lässt ist das Marketing – und damit sind die schönen Argumente oft nicht mehr als Augenwischerei, ein oberflächliches „Greenwashing“. Glaubwürdig sind hingegen die Firmen, die grüne und soziale Strategien schon lange zu ihrem Thema gemacht haben. Die sind in der Lage mit ihren Potenzialen ehrliche Innovationen voranzutreiben. Es fällt aber auf, dass die Diskussion um die Nachhaltigkeit immer mehr von der Ethik abgelöst wird. Mir ist das viel sympathischer und es trifft auch mehr den Geist von Nomad, denn wir stehen für Ehrlichkeit uns selbst und anderen gegenüber.

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Das ganze Interview ist in der Printausgabe des nomad-magazine auf Englisch erschienen.

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