Architektur für den Teller: Pâtissier Gil Avnon

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Gil Avnon ist ein kulinarischer Ingenieur, der nur für den Augenblick des Genusses entwirft. Als Chef der Patisserie war er in großen Häusern wie dem Londoner Dorchester, dem Berliner Adlon, dem Kempinski in Heiligendamm oder dem Raffles Plaza in Singapur für den letzten Gang verantwortlich. Jetzt verlässt er die Hotelküchen und wechselt zum neuen Berliner Restaurant Goodtime Grill, in dem sich asiatische Küche und europäischer Nachtisch begegnen werden. Wir trafen Gil Avnon an seinem neuen Arbeitsplatz und sprachen mit ihm über den Stress hinter fünf Sternen, Konstruktion und Ästhetik seiner Kunstwerke und die Herausforderungen, die einem Pâtissier in internationalen Hotelküchen begegnen.  

Was genau umfasst Pâtisserie eigentlich?

Die Patisserie ist ein bisschen ein Zwitterding. Zuerst lernt man klassisch Konditor. Und dann setzt man eine Fortbildung, etwa an einer Hotelfachschule, obenauf. Ich habe bereits in den ersten drei Jahren meiner Ausbildung schnell gemerkt, dass mir die Konditorei allein zu eng ist – man macht immer das Gleiche, jeden Tag, das wurde mir schnell langweilig…
 
Gibt es keine Pâtisserie-Ausbildung?

Mittlerweile ja. In den Hotels kann man sich heute ausbilden lassen. Aber Pâtisserie ist eigentlich etwas zwischen Konditorei und Hotelküche. Oder einfacher: Die Konditorei produziert Kuchen und Torten, Kekse und Pralinen – und in der Hotelküche werden auch Tellerdesserts und Fingerfood hergestellt…

In der Pâtisserie hat Ästhetik eine große Bedeutung. Seid ihr Food Designer?
 
Pâtisserie ist sehr akkurat. Es geht nicht um das schnöde Stück Torte. Eben nicht um Schwarzwälder Kirsch mit 28 Zentimeter Durchmesser, die in 16 Stücke geschnitten und mit einer Belegkirsche versehen wird, sondern man kann die Torte auch als Eis am Stil, Sandwich oder im Glas umsetzen. Konditorei ist das Handwerk, aber die Pâtisserie ist kreativ. Wer für fünf Sterne arbeitet, kann nicht einfach nur ein Stück Sacher Torte auf den Teller stellen. Die muss man schon anders präsentieren.

Arbeitest Du nach Geschmacksklassikern wie der Sacher-Torte, oder entwickelst Du auch ganz neue Sachen?

Ausgangsbasis für meine Kreationen kann schon ein Standard-Rezept sein, aber das wird sich dann im Laufe der Entwicklungsphase verändern. Auch eine Sacher-Torte backe ich heute nicht mehr nach dem Rezept, das ich mal vor 20 Jahren gelernt habe.

Wie verändern sich denn deine Rezepte? Ist das Trial and Error?
 
Ja, manchmal ist es der Error, der das Rezept verändert (lacht). Ein Missgeschick kann durchaus etwas Neues hervorbringen. Oder ich probiere aus. Um aber selber lange zu experimentieren, fehlt mir in der täglichen Hotel-Routine die Zeit. Da habe ich dann etwas im Kopf – und das muss dann erst einmal ein Lehrling umsetzen.

Wie lange dauert es denn, ein Pâtisserie-Produkt herzustellen? Das besteht ja trotz seiner eher kleinen Größe oft aus unzähligen Komponenten…
 
Wenn ich ein Dessert entwerfe, dann beginne ich mit Papier und Stift. Sobald die Zeichnung steht, nehme ich das Produkt auseinander: Was wird wann wie hergestellt? Ich muss straff takten. Am ersten Tag produziere ich etwa Streusel, am zweiten den Kern, der kommt zum Beispiel in den Froster, dann setze ich das alles zusammen, am dritten überziehe ich es und richte es an. Ein Pâtissier muss seinen Produktionablauf über lange Zeit planen. Anders als in der Küche, wo ich vielleicht Fleisch und Beilagen koche und fertig.

Das stelle ich mir bei zehn parallel entstehenden Nachtischen kompliziert vor…

Das ist es auch. Aber viele Komponenten müssen sowieso in den Froster – das ist ein logischer Bestandteil der Produktion. Wenn ich mit Formen arbeite, geht das gar nicht anders. Und diese Formteile produziere ich dann zuerst. Alles eine Frage von Organisation und Logistik.

Du hast auch in London und Singapur gearbeitet, warst etwa im Dorchester Pâtisserie-Chef. Welche Erfahrungen hast Du dort gemacht?
 
In London waren sie vor allem außerordentlich gut organisiert…

Und die kulturellen Einflüsse? Beispiel Singapur: Gibt es nationale Geschmäcker, auf die man sich einstellen muss?

Schon, ja. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man für Ausländer arbeitet, die nach Singapur kommen, oder für die Singapurianer selbst. Die Asiaten haben ja nicht wirklich eine lange Dessert-Kultur. Auch wenn es in den Städten aussieht wie im Westen, sind sie kulinarisch traditionell unterwegs, und auf Nudelsuppen folgt eben nicht unbedingt ein Nachtisch. Die Herausforderung für mich war nicht unbedingt, die Gäste zu erreichen, sondern die Mitarbeiter. Weil sie Desserts aus ihrer eigenen Kultur nicht kennen, muss man sie auch geschmacklich schulen. Denn auch in der Pâtisserie muss immer wieder abgeschmeckt werden. Die Mitarbeiter in Asien waren durchaus kreativ, wenn es um Dekoration und Ästhetik ging, aber manchmal fehlt es an der geschmacklichen Erfahrung.

In Singapur sind viele Dinge bunter als sie schmecken…

Ja, genau das meine ich. Aber Patisserie besteht aus drei Dingen, die du beherrschen musst. Das Handwerk ist die Basis, aber auch Gaumen und Geschmack müssen trainiert werden, und dann ist da die kreative Seite. Wenn ich ein Konzept mache, muss ich mir auch vorstellen können, wie das schmeckt, was ich da zeichne.

Hast Du ein paar Grundregeln, nach denen Du arbeitest?

Ich beginne meistens mit den Jahreszeiten und mache mir eine Liste saisonaler Produkte. Und stelle ich mir daraus eine Auswahl zusammen. Etwas Schokoladiges, etwas mit Obst. Und je nach Grundgeschmack baue ich eine Spannung auf. Zwischen den Temperaturen: warm zu kalt, oder den Texturen, etwa wenn ein luftiger Schaum auf eine knackige Hülle trifft oder den Geschmäckern, wenn die Schokolade mit Beeren verarbeitet wird.

Du denkst also immer gleich an die ganze Kollektion?

Ja, daran, und an die Farben. Es passiert manchmal im Herbst, dass du plötzlich denkst: Herrje, das ist ja alles braun. Das darf natürlich nicht passieren. Stell Dir vor, ein Gast bestellt vier Nachtische – und alles sieht gleich aus. Das geht natürlich nicht. Alles muss deshalb in Farbe, Form, Textur und Geschmack zu allem passen – und dabei möglichst kontrastreich sein.

In den letzten Jahren hast Du hauptsächlich in Hotels gearbeitet?

Ich war eigentlich nur in Hotels, bis auf zwei Ausnahmen..

Gibt es einen Grund, warum du Dich davon verabschiedest hast? Suggestivfrage… ich stelle es mir sehr stressig vor.

Es ist sehr stressig und wird immer undankbarer, weil die alte Generation, die noch in traditioneller Küchenorganisation denkt, in Rente geht. In der klassischen Hotellerie gibt es fünf gleichberechtigte Posten: Gardemanger (kalte Küche und Vorspeisen), Entremetier (Beilagen), Saucier, Poissonnier (Fleisch und Fisch) und die Pâtisserie. Aber heute wird auch in den Hotels immer mehr gespart und dann werden manches Mal Posten einfach gestrichen. Dann wird es sehr anstrengend und man muss permanent seine Müdigkeit bekämpfen.

Bei Deinem neuen Projekt stehst Du in einem Restaurant und bist allein für die Pâtisserie zuständig. Hast Du dort geschmacklich und ästhetisch mehr Möglichkeiten?

Die Freiheit hatte ich im Hotel auch.

Musst Du dich nicht auf die Köche einstellen?

Nein, wenn man Pastry-Chef ist, dann ist man eigentlich immer autark, mit der daran gebundenen Verantwortung. Lehrlinge betreuen, Material und Zutaten besorgen – das muss man alles im Blick haben. In meinem neuen Projekt plane ich das Konzept von Grund auf und habe mehr Raum zum Experiment. Ich berücksichtige etwa auch asiatische Aromen, nutze typische Produkte wie Jackfrucht oder Pandan-Blätter. Ich plane von den Maschinen über den Entwurf bis hin zur Umsetzung. Eigentlich hast du recht: Es fühlt sich ein bisschen an wie Selbstständigkeit, aber mit einem geringeren Risiko.

Erschienen auf www.designlines.de
Fotograf: Johann Goossen

ein Kommentar

  1. super interessant, insbesondere die antwort zur herstellungszeit. abgefahren wie komplex so etwas sein kann…

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